Tantramassage nach sexuellem Missbrauch? #3/Teil1 – Wenn wir Trauma unterschätzen

,

Traumaforschung ist für mich pure Lebensforschung. Ich habe es im vorherigen Text schon erwähnt: All unser hartnäckiges, widersprüchliches, getriebenes, unglückliches, sehnsüchtiges Verhalten enträtselt sich, sobald wir uns selbst mit einem traumaspezifischen Blick betrachten.

Leider sind wir eine zutiefst naive Gesellschaft in Bezug auf Trauma. Wir alle unterschätzen Trauma. Wir unterschätzen, wie sehr es uns, unsere Kultur, unsere alltäglichen, unauffälligen Gewohnheiten, Muster, Konzepte und Werte geformt hat und täglich formt. Der traumaspezifische Blick wird uns also nicht leichtgemacht…

Wenn es um intime Berührungen geht (sagen wir mal: um eine Yonimassage), dann kommt uns unsere kulturelle Berührungsangst mit dem Thema Trauma teuer zu stehen. Dann kann es uns an einem natürlichen Gefühl für die traumaspezifischen Dynamiken mangeln, die eine Frau nach sexuellem Missbrauch belasten.

Ein gemeinsames Um-Lernen

Auch mit den besten Absichten kann uns dieser Fehler passieren: Wir unterschätzen das Trauma, das die jeweilige Klientin mitbringt – wir sind naiv. Und wenn ich „naiv“ schreibe, geht es mir nicht um das Zuweisen von Schuld. Kinder sind auch an vielen Stellen naiv, dennoch käme niemand darauf, ihnen einen Vorwurf daraus zu machen. Wir brauchen – wie Kinder – Zeit und eine gute Lernumgebung, um unsere Naivität, die wir kollektiv tragen, Stück für Stück abzubauen. Woher auch hätten wir Wissen über Trauma nehmen sollen?

Die moderne Traumaforschung ist so jung und so sehr „work in progress“, dass sie einfach noch keine Zeit hatte, um sich mit den vielen Bereichen der Massage und sonstigen „Menschen-Arbeit“ zu vernetzen. Ich hoffe, dass unter Anderem dieser Blog das etwas nachholen kann.

Ist Trauma wirklich ein Spezialfall?

Ich sehe traumatisierte Menschen ja grundsätzlich an als die Spitze des Eisbergs (Stichwort Freeze…) in einem Trauma-System und in einer traumatisierten und traumatisierenden Kultur. In meiner Auffassung sind „Traumaopfer“ ein Symptom in dem Gesamt-Körper dieser Gesellschaft, und als solche können sie uns unschätzbare, wertvolle Hinweise darauf liefern, wie eine globale Heilung aussehen kann. Wenn wir uns dem Thema Trauma zuwenden und von ihm lernen, erkennen wir, dass es ein Spiegel für uns selbst ist.

Trauma ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Trauma ist uns allen gemeinsam. Gewiss in sehr unterschiedlichen Graden und Formen, dennoch einander ähnlich genug, dass wir ein tiefes und respektvolles Wissen um die Not der Anderen buchstäblich in unseren eigenen Zellen tragen. Und von diesen Orten der eigenen Kämpfe und Wunden aus sind wir wunderbare Begleiterinnen füreinander.

Ich bin überzeugt, dass es unseren Tantramassagen, unserer Art und Weise, zu berühren und uns berühren zu lassen, unglaublich viel schenken kann, wenn wir die Kraft und Wucht von Trauma nicht unterschätzen.

Die US-amerikanische Literatur zum Thema Missbrauch schenkt uns ein präzises Stichwort in unserem Vorhaben, Trauma nicht zu unterschätzen. Sie schreibt grundätzlich von den „Survivors of abuse“ – von „Überlebenden“. Der Begriff der „Überlebenden“ trifft den Kern dessen, was ein Trauma definiert: Überlebens-Modus statt Lebens-Modus. Die deutsche Sprache ist hier viel ungünstiger, indem sie von „Opfern“ spricht. (Zumal in unseren riskanten modernen Zeiten, in denen kaum jemand „Opfer“ sein darf, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, „nicht in seine Kraft zu kommen“.)

Was heißt das für den Umgang mit Missbrauch im Tantra?

Ausbildungen in Tantramassage vermitteln natürlich in erster Linie einen tantrischen Umgang mit Sexualität – mit der genitalen Anatomie von Frauen und Männern, mit Techniken der Berührung, mit spirituellen und rituellen Hintergründen und dem Ablauf der Tantramassage. Jede anerkannte Ausbildung in Sachen Tantra kommt auch auf sexuelle Traumata zu sprechen. Dieser Rahmen und dieses Wissen reicht für viele Schnittstellen zwischen Tantra und Trauma aus, aber es reicht nicht für jeden Aspekt, den sexuell Traumatisierte erleben und erleiden können. Nicht umsonst laufen die meisten seriösen Ausbildungen in Traumatherapie über mehrere Jahre und sparen sich das Thema Sex, um nicht auszuufern:-)

Zusätzlich zu dem Know-How gibt es Aspekte im Umgang mit Trauma, die keine Ausbildung der Welt, sei es nun Tantra oder Therapie, ersetzen kann: die Zeit und den Mut, eigenen Wunden zu begegnen – selbst zu heilen. Diese „Reifung“ eines Menschen können wir nicht abkürzen und nicht umgehen. Sie ist aber sicherlich eines der größten Geschenke, die wir uns selbst und den Menschen in unserem Leben machen können. Und mit jeder Schicht meines Panzers, den ich schmelzen und erlösen kann, schmilzt auch meine Naivität und Fehleinschätzung in Bezug auf die Traumata Anderer dahin.

Wie genau sieht diese Naivität aus?

Ich möchte hier an drei konkreten Momenten deutlich machen, wie eine Unterschätzung von Trauma aussehen kann und was wir daraus für die Begegnung von Tantra und Trauma lernen können.

Diese drei Momente sind:

1.) Grenzen setzen
2.) Dissoziation
3.) Zeichen von Heilung


1.) Grenzen setzen:

Im tantrischen Kontext – so mutig, nackt und intim, wie er sein kann – ist es glücklicherweise üblich, die Klientin darauf hinzuweisen: Nichts, gar nichts solle „über ihre Grenzen gehen“ und sie möge jederzeit Stopp sagen, wenn etwas körperlich unangenehm würde. Schließlich sieht Tantra im Menschen die göttliche Essenz, und niemand springt grob mit einer Göttin um:-)

Wer eine Yonimassage bekommt, soll sich bedingungslos angenommen, gewürdigt und respektiert, sogar verehrt fühlen, ganz gleich, welche Gefühle und Bedürfnisse, welche Grenzen und „Probleme“ sie mitbringt. Und wenn sie eine bestimmte Berührung nicht möchte oder anders möchte… wird auch dieser Wunsch von ihr bedingungslos willkommen geheißen.

Soweit zum tantrischen Hier und Jetzt.

Für Überlebende liegt in der Frage um körperliche Grenzen – wer mich berührt und wie und wann das geschieht und ob das ganze Geschehen überhaupt nach meinen Bedürfnissen fragt – jedoch keine Einladung und keine Neugierde mehr, sondern Todesangst – das Zentrum von Verwirrung und Verrat, eine innerer Alptraum ohne Orientierung, Gnade und Ende.

Die Wucht solcher Ur-Kräfte unterschätzen wir bei Weitem, wenn wir glauben, wir könnten ihnen beikommen, indem wir dazu einladen, „einfach Stopp“ zu sagen.

Natürlich ist dennoch immens wichtig, zum Stopp-Sagen (und zu dem ganzen Repertoire an Rückmeldungen und Wünschen) aufzufordern! Wir machen einen großartigen Job, wenn wir es wieder und wieder aussprechen und betonen: „Hier darfst du. Bitte teil mir mit, was du erlebst und wie ich dich berühren oder nicht berühren soll, so dass du dich wohl fühlst…“

Diese wichtige Geste sollte aber niemanden zu der Annahme verführen, dass dadurch ab sofort alle Grenzen aufgezeigt werden können.

Denn wer den Alptraum einer missbrauchten Kindheit überlebt hat, kann auch in den „Grenzbereichen der eigenen Grenzen“ häufig nichts als Panik erleben.

Über die Mechanismen der Grenzverletzung und Grenzheilung möchte ich noch an anderer Stelle ausführlich schreiben. Hier nur soviel: Unsere Grenzen zu heilen ist eines der Herzen von Traumaheilung. Und es ist ein Herz, das sich langsam wieder wachküsst.

Langsam deshalb, weil Trauma und seine Heilung in unserem Gehirn unterhalb dessen gelagert sind, was wir durch unsere „guten Vorsätze“ und Co. erreichen und bewegen können.

Sobald es sich um echte Trigger für echte Traumata handelt, schaltet das Nervensystem autonom (das heißt: ohne uns vorher um Erlaubnis zu fragen!) den bewussten Zugriff aus. Viele Missbrauchsopfer fragen sich, warum sie die Vergewaltigung in einer gespenstischen Einwilligung über sich ergehen ließen. „Ich wusste, dass ich Stopp sagen sollte… aber ich konnte einfach nicht.“ Mir tut weh, wie selbstverständlich manche Überlebende sich darin selbst die (Mit-) Schuld geben.

„Wer wir sind“, was wir uns vorgenommen haben und wie wir jetzt gerne dastehen würden – all das ist nichts als eine eingeschläferte Erinnerung an Gestern, wenn tiefe, alte Bereiche unseres Nervensystems das Überleben sichern wollen. Vorbei, was uns über unsere Grenzen gesagt wurde – vergessen, wozu man uns eingeladen hat – egal, wie sehr wir dem Setting vertrauen wollten.

Mit anderen Worten: Wo wir Trauma erlebt haben oder erleben, ist die Unfähigkeit, Stopp zu sagen, physisch, real, neurologisch gemeint! Sie ist nicht länger eine Frage von Talent, Mut oder Charakter, sondern eine instinktive Reaktion unseres autonomen Nervensystems, und unterliegt darin NICHT (für uns ich-verliebten Westlerinnen gewöhnungsbedürftig) unserem bewussten Zugriff. Wir reden hier also nicht von „Entscheidungen“ oder einem „freien Willen“.

Das Wieder-Finden dessen, dass das Mitteilen eigener Grenzen Sicherheit erzeugt statt sie zu zerstören, ist ein sensibler und geduldiger Prozess, den überhöhte und naive Erwartungen von außen blockieren können. Zu einer tiefen „Reparatur der Grenzen“ gehört mehr als unsere besten Absichten von außen.

Es ist wundervoll, wenn wir diesen Prozess ermutigen, indem wir es aussprechen: „Bitte experimentier damit, Stopp zu sagen, wann immer du möchtest. Ich bin da und ich bleibe auch da, wenn wir dann gemeinsam schauen, ob die Massage weitergehen kann oder lieber nicht, OK?“

Diese Einladungen können der Beginn – und nicht das Ende – eines wundervollen Dialogs zwischen der Tantramasseurin und der Überlebenden werden. Ein langsames, ruhiges Gespräch, welches die Massage begleitet und dazu einlädt, jeden Moment aufs Neue in verschwiegene, kraftvolle Räume zu schauen: „Fühle ich mich gerade sicher? – Und was brauche ich, um das mitzuteilen?“

 

Die Punkte 2.) und 3.) – „Dissoziation“ und „Zeichen von Heilung“ – findest du im #3/Teil 2!

 


Ich bin mir im Klaren darüber, dass Körperarbeit und tantrisches Hands-On schwer in Worten zu vermitteln ist. Wer die Variationen und Hinweise aus dieser Artikelserie praktisch lernen und vertiefen möchte, ist herzlich zur Fortbildung „Tantra und Trauma“ in Berlin eingeladen, die ich gemeinsam mit meinem Partner Mari leite.

 

Bist du selbst in den Bereichen von Tantra und Trauma unterwegs? Natürlich kannst du mir gerne deine eigenen Erfahrungen mitteilen! Und ich freue mich sehr, wenn du diesen Text weiterleitest an Menschen, die sich ebenfalls für diese Themen interessieren. Danke!

 

©Ilan Stephani