Wut ist weiblich #1
Nichts, gar nichts bezeichnet das Dilemma von „uns modernen Frauen“ so gut wie die Sehnsucht nach unserer Wut, während wir sie gleichzeitig fürchten. Wir wissen ja genau, was wir unter der Maske des Lächelns und der Einsicht verbergen… „Dann würde ich alles kleinschlagen – wenn ich an meine Wut komme, würde ich alles kaputtmachen.“ Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört? Irgendwann habe ich nicht mehr gezählt.
Offenbar reden viele Frauen sich ähnliche Horror-Szenarien ein für den Fall,dass sie ihre innere Tigerin aus dem Käfig ließen. Eine Zerstörung, die sie nicht mehr reparieren könnten, eine Schuld, die sie niemals ausgleichen könnten, unverzeihliche Fehler und unverzeihlicher Egoismus, kurz: die ewige Hölle erwartete sie, wenn sie mal so richtig wirklich wütend werden würden, nicht wahr? – Ich denke, ich überrasche niemanden damit, wenn ich sage, dass diese Horror-Szenarien pure Fantasie sind. Sie entsprechen dem Spuk in einem verängstigten kleinen Mädchen. Sie funktionieren als ein Bluff in unserem Denken, durch den wir „dieses eine Mal noch“ lieber kollabieren als zu kämpfen, aber ihre Inhalte sind bei Tageslicht betrachtet… nichts als Gespenster.
Ein Erbe aus der Kindheit
Was wir – unter Anderem – darin versuchen, ist, die Welt ein Stückchen friedlicher und glücklicher zu machen, indem wir ihr unsere eigene Kraft und unseren eigenen Willen ersparen. Auch das entspricht der inneren Not von einem verlassenen Kind, und es wurde auch als Kind gelernt. Wenn wir es heute noch einmal betrachten, müssen wir zugeben, dass wir das Elend, das Trauma und Leiden unter Menschen nicht aus der Welt schaffen können, indem wir unsere Wut und Kraft unterdrücken. Denn seien wir ehrlich: Würden wir die Welt durch unterdrückte weibliche Wut retten könnten, dann wäre sie schon gerettet…
Sollten wir nicht einen anderen Umgang mit unserer Wut finden? Sollte es nicht möglich sein, einen Weg zu gehen, der uns nährt und bestärkt, der uns Wärme und Vertrauen gibt? Statt unsere Gefühle in die Guten und die Bösen einteilt und uns erschöpft im ewigen Widerspruch zwischen unserer Maske und unserer Tiefe?
Was wäre, wenn nicht Wut an sich das Problem ist, sondern unterdrückte Wut? Sind vielleicht gar nicht so sehr deine Instinkte für Abgrenzung und Verteidigung schuld, sondern der Widerspruch zwischen dem, wie du nun einmal fühlen, leben und atmen möchtest, und den seltsamen kulturellen Regeln, denen wir Menschen uns unterwerfen?
Wut als Lösung statt als Problem…
Hier kommt das Geheimnis: Wut will nicht zerstören. Deine Wut selbst will dein Leben nur schützen. Sie zielt weder auf Leid noch auf Rache, sie montiert sich keine Gegner und keine „Bösen“ ins Gehirn, sondern zündet unmittelbar und wohldosiert jene Kraft, die es braucht, um dein Leben zu schützen.
Wut arbeitet nicht gegen dein Leben, sondern für dein Leben. (Du selbst magst vielleicht gegen dein Leben arbeiten, aber gewiss nicht deine Wut.)
Nicht Wut ist es, die unsere Organe und unsere Beziehungen, unser Vertrauen und unseren Planeten zerstört, sondern unterdrückte Wut. Und diese zerstört aber tatsächlich und täglich und wahllos überall. Unterdrückte Wut löscht unser Mitgefühl füreinander, unterdrückte Wut verhindert eine einfache Orientierung in der Welt und macht uns labil, unruhig und unglücklich. Cholerische Anfälle und inneres Erkalten sind zwei Seiten derselben Medaille: Unsere Körper dürfen mit ihren ureigenen lebendigen Kräften nicht mehr umgehen, und immer häufiger muss unser energetischer Raum sich entladen, im Brüllen oder Weinen, weil der sinnliche Lebensraum so künstlich geworden ist. Zu klein und eng für eine Tigerin.
Und was hat das Ganze jetzt mit Traumaheilung zu tun?
Trauma und unterdrückte Wut gehen Hand in Hand.
Aus der modernen Traumaforschung wissen wir, dass ein Körper instinktiv versucht, ein Trauma zu verhindern, indem er die Stadien von Flucht und Kampf durchläuft. Interessant für unser Thema hier ist der Modus von Kampf – denn um zu kämpfen, braucht es exakt jene Qualität, die wir als „Wut“ bezeichnen!
Wir wissen auch, dass ein Kampf, der die jeweilige Situation gewinnt, Traumatisierung verhindert bzw. die nachfolgenden Symptome erheblich mildert. Je erfolgreicher meine Wut für mein Leben kämpfen darf (gegen wen oder was auch immer), desto weniger wird mich das Erlebnis in meine Zukunft hinein verfolgen. Im Idealfall wird so aus einer potentiell traumatischen Situation eine Initiation in große körperliche Klarheit und Sicherheit, die mein weiteres Leben bereichert und vertieft.
Zu einem „Trauma“ im eigentlichen Sinne kommt es tatsächlich erst dann, wenn dieser „Wut-Modus“ nichts bewirkt oder ich ihn in der jeweiligen Überforderung und Überwältigung nicht bewusst erleben, geschweige denn nutzen kann. Unter dem Eindruck eines überlegenen Gegners erlischt die Möglichkeit zum Kampf ebenso schnell wie die zur Flucht – einen Wimpernschlag später schon fällt mein Körper in eine taube Starre und gibt seine lebensschützenden Grenzen auf. DAS ist der Moment, der sich danach als ein Trauma in meinem Körper speichern wird.
Trauma und Wut als körperliche Pole
In diesem einen tauben starren Punkt wird von nun an ein Ozean der Kraft auf mich warten. Unbemerkt und scheinbar von der ganzen Welt vergessen… verbirgt sich in diesem heimlichen Bereich meines Lebens ein Ur-Ablauf von aller Entschlossenheit, zu fliehen und zu kämpfen, um zu überleben. Es ist ein großer und fantastischer Schock für unser Denken und Erleben, wenn wir das erfahren: Dieses Erlebnis, welches ich jahrelang vielleicht vergessen und verdrängen konnte, birgt die größten Kräfte, zu denen ein Körper nur fähig ist.
Und Trauma – zeitlos gespeichert – gibt sich ohne Zögern zu jeder Zeit auch wieder frei. Trauma kennt kein „Chance verpasst“ und trägt in sich selbst keinen Ehrgeiz, Trauma zu bleiben. Im Gegenteil: Wenn die Umstände für unsere Körper günstig sind, liebevoll, mutig und sicher, strebt unser Körper mit schlafwandlerischer/instinktiver Sicherheit zurück in die Wut, um die Verteidigung von damals nachzuholen und erfolgreich zum Abschluss zu bringen. (Und um danach friedlicher weiterzuleben als jemals zuvor. #Weltfrieden…)
Dies ist ein heiliger Turning Point in unserem Erleben. Aus unserer größten Schwäche beginnt unsere größte Kraft zu fließen. Und da wir unter Menschen und selbst ein Mensch sind… ist das ein langsamer und schrittweiser Prozess. (Immerhin stellt jede Traumaheilung auch eine kleine Revolution im kollektiven Körper der Gesellschaft dar:-) Wenn ich von echtem Nachholen echter Wut schreibe, meine ich nicht Brüllen und Toben, nicht Rache und Groll, sondern Wut als eine Flamme warmer, nährender Lebensenergie, die nach und nach unsere Masken, unsere Taubheit und Starre schmelzen und erlösen kann.
Denn Traumaheilung und Wut gehen Hand in Hand.
Mehr davon? Dann könnte dir das Seminar „TigerWork“ gefallen, das ich gemeinsam mit meinem Partner Mari leite – zwei Wochenenden unter Frauen, um die Power und Weisheit unserer Instinkte wieder nutzen zu lernen!
©Ilan Stephani