Tantramassage nach sexuellem Missbrauch? #4/Teil 1 – Wenn Geborgenheit zum Problem wird

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Kann es „zuviel Geborgenheit“ geben? Eigentlich nicht. Ebenso wenig, wie es zuviel Freude, zuviel Liebe oder zuviel Glück geben kann.

Sind wir in Gefilden von Trauma unterwegs, kann viel Geborgenheit jedoch „zuviel“ auslösen.

Wenn wir uns mit einem anderen Menschen außergewöhnlich sicher und geborgen fühlen – wenn wir intim und friedlich werden und all das erleben, was wir glaubten, im Trauma verloren zu haben… kann das Paradies in einen Alptraum umschlagen. Eben noch waren wir selig, endlich, nach all den Ängsten und Kämpfen, sind wir im Körper, atmen weich und verbunden an der Haut unserer Partner, spüren das Leben in unseren Zellen und den Frieden im Raum. Plötzlich, einen zeitlosen Augenblick später, strömen Bilder in unser Bewusstsein, wir verlieren die Orientierung, wir rutschen dem kostbaren Hier und Jetzt aus den Händen und fallen in einen Strudel aus Panik, Verwirrung und Ohnmacht.

In einem relativen Sinne also doch: „Zuviel Geborgenheit“ ist möglich.

Woran liegt das? Weshalb hat ausgerechnet etwas so Schönes und Lebenswichtiges wie Geborgenheit eine so starke Triggerwirkung auf ein Trauma?

Die Antwort auf diese Frage liegt in unseren Instinkten, unserer körperlichen Heimat darin, ein Wildtier zu sein, begründet.

Wieder und wieder haben neugierige Forscherinnen die Stressreaktionen von gesunden, freien Säugetieren studiert und Situationen wie die folgende beobachtet:

Mehrere hungrige Löwinnen pirschen sich an eine Antilopenherde heran. Sie trennen eines der Tiere von seiner Herde und hetzen es über die Steppe. Mit menschlichem Blick würden wir sagen: „Oh Gott, was für eine traumatische Situation.“ Der Körper der Antilope, durchflutet vom Adrenalin, rennt um sein Leben – und entkommt. Und wir atmen auf. Überlebt. Die Gefahr ist vorbei.

Was tut die Antilope nach dieser Jagd, um keine posttraumatische Belastungsstörung davonzutragen?

Sie zittert.

Die Antilope, wie jedes Säugetier, zittert Stress, Adrenalin und Traumata aus ihren Zellen, bis buchstäblich nichts von der tödlichen Gefahr zurückgeblieben ist (außer ein gesteigertes Selbstvertrauen und mehr Erfahrung darin, wie man hungrigen Raubkatzen entkommt).

Und wann tut die Antilope das?

Sobald sie sich wieder geborgen fühlt.

In diesem Beispiel: Sobald sie wieder in ihrer vertrauten Umgebung, in der Sicherheit ihrer Herde angekommen ist.

Dieses „Heilungs-Zittern“ taucht bei Antilopen auf, bei Pferden, Menschen, Eisbären und Co. Es taucht bei allen Säugetieren auf. Unsere Körper wollen Stress und Traumata loslassen, sobald die akute Gefahr vorüber ist. Und um loszulassen, wollen sie zittern.

Auch bei Menschenkörpern ist die Basis das Zittern – nach Kriegen werden unkontrolliert zitternde Soldatenkörper beobachtet und in der klassischen Psychiatrie sind zahlreiche „Störungsbilder“ beschrieben, die mit heftigem körperlichen Zittern einhergehen.

Vielleicht wäre das Zittern selbst für uns Menschentiere gar nicht so furchteinflößend, dass wir es verhindern, „abstellen“ oder wenigstens als „gestört“ erklären wollen.

Wir erleben das Zittern jedoch begleitet von massiven Trauma-Wellen, die aus unserer Vergangenheit heraus über die Gegenwart hereinbrechen. Wir fühlen Schmerz und Wut und Angst und irgendwie alles auf einmal, wir haben urplötzlich das Gefühl, zu erfrieren oder in der Hitze unserer Zellen zu verbrennen. Manchmal erinnern wir uns an Gerüche, Geräusche oder Bilder, die mit dem Missbrauch zusammenhängen. Und in dieser Flut aus Intensität erleben wir uns selbst wie damals: überwältigt. Trauma ist „zuviel“.

Das ist der springende Punkt für unser Thema der Geborgenheit: Wenn wir uns unter unseresgleichen wiederfinden und wohlfühlen, beruhigen und entspannen, wird unser Nervensystem vergangene Situationen aktivieren, um sie aus dem Körper zu zittern – wir erleben ein „Comeback“ von Erlebnissen, in denen wir uns gefühlt haben wie eine Antilope in der Jagd um ihr Leben.

Das ist die besondere, intime Verbindung von Trauma, Geborgenheit und Heilung: Geborgenheit ist der Code, damit ein Trauma seinen Weg der Heilung einzuschlagen beginnt. Geborgenheit ist der Magnet, der vergessene und verdrängte Ladungen in uns aus der Tiefe an die Oberfläche saugt.

Wir alle kennen die Macht von Geborgenheit aus vergleichsweise harmlosen Situationen: Irgendetwas hat uns verstört und verängstigt, wir fühlen uns hilflos und überfordert. Unvermutet trifft uns ein liebevoller Blick, eine Nachfrage – „Und wie geht es dir damit?“ – und plötzlich bricht alles aus uns heraus. Wir weinen, und vielleicht merken wir erst jetzt, da wir getröstet werden, wie schrecklich unser ehrliches Erleben gewesen war, unter der Maske, die wir versucht hatten zu halten. Unsere Gefühle „laufen über“ und wir schwitzen, schluchzen und weinen uns aus.

Genau dieses „Überlaufen von Gefühl und Energie“ – in einer gesteigerten Form – läuft auch ab, wenn ein Trauma durch Geborgenheit in unser Bewusstsein drängt.

Das ist für unser Thema deshalb interessant, weil tantrische Settings es auf maximale Geborgenheit natürlich anlegen.

„Alles darf dasein – du bist willkommen, mit allen Gefühlen, mit allen Bereichen deines Körpers, mit allen Wunden und Sehnsüchten, die du mitbringst. In dir lebt ein göttlicher Kern, du bist vollkommen und du bist uns willkommen!“ Geht es geborgener?

Wenn eine Überlebende von sexuellem Missbrauch schon im Vorfeld Vertrauen und Geborgenheit mit der Masseurin aufbauen konnte, wenn einfach alles an einer tantrischen Erfahrung ziemlich perfekt ist, vermag uns die radikale Bejahung des Tantra unvermittelt ins Paradies zu stellen. Und da stehen wir dann… unter Schock.

Das plötzliche Wegfallen unserer Trigger für Angst und Anpassung erwischt uns „auf dem falschen Fuß“. Die Hölle können wir aushalten, ja – aber nicht den Himmel. Das erste Tantraseminar unseres Lebens, nach langer Vorbereitung unsere erste Yonimassage… und wir brechen haltlos in Tränen aus. Irgendetwas, das wir nicht begreifen und nicht kennen, können wir nicht aushalten. „Ich weiß auch nicht – es war mir einfach alles zuviel!“ werden wir später sagen.

Dabei ist diese Reaktion kein Wunder und nicht selten. Trauma ist ein gespeicherter Kern maximaler und qualvoller Nicht-Geborgenheit.

Wenn wir unser Trauma in einen Raum aus purer Geborgenheit setzen, provozieren wir explosive Reaktionen. „Zuviel des Guten“ ist im Umgang mit Traumata buchstäblich und wörtlich gemeint.

Tantramassagen hantieren mit einem Pulverfass, paradoxerweise umso mehr, je besser es ihnen gelingt, Geborgenheit herzustellen.

Nun, da mir endlich mal niemand sagt, wie ich sein soll, ob ich reden oder schweigen, Lust erleben oder Tränen weinen soll, wäre an sich ja alles wunderbar. Genau dieser Luxus kann mir aber Angst machen, weil der Gegensatz zu meiner alltäglichen Matrix so extrem ist, dass ich „den Sprung in die neue Welt“ nicht schaffe.

Das Geschehen selbst – das Auftauchen von Trauma-Feldern, wenn der Raum geborgen ist – ist ein gutes Zeichen.

Es signalisiert einfach, dass unser Nervensystem großes Interesse an Heilung hat und die Gelegenheit ergreift und nutzen möchte. Wenn Geborgenheit uns in unsere heftige Geschichte wirft, dann deshalb, weil die Heilung arbeitet. Weil es funktioniert. Das Problem ist nur, dass es unkontrolliert zu gut funktionieren kann und dass es darin das Fassungsvermögen der Klientin, der Therapeutin, des Raumes sprengt.

Das Problem ist die Menge dessen, was sich da freisetzt. Offenbar rechnen unsere Körper mit uns, als seien wir immer noch diese zähen, zuverlässigen Antilopen, keine kulturverstörten Geschöpfe mit einem hyperaktiven Verstand.

Unter den gegebenen „menschlichen Umständen“ also sollten wir auf solche Signale achten und rechtzeitig Orientierung und Beruhigung anbieten.

Unsere Aufgabe als Begleiterin ist tatsächlich nicht nur, Geborgenheit zu kreieren, sondern auch, sie zu dosieren!

Dieses Dosieren können wir als Begleiterin auch dann anwenden, wenn keine dramatischen Reaktionen ablaufen. „Geborgenheit als Trigger“ äußert sich nicht immer dramatisch. Als Überlebende können wir auch einfach in einer latenten Unsicherheit sitzen, einem diffusen Gefühl von Befangenheit oder einem „heimlichen Freeze“ – eben weil die gewohnten Leitplanken fehlen.

Und wie dosieren wir Geborgenheit?

HIER geht es weiter zu #4/Teil 2!

 


Ich bin mir im Klaren darüber, dass Körperarbeit und tantrisches Hands-On schwer in Worten zu vermitteln ist. Wer die Variationen und Hinweise aus dieser Artikelserie praktisch lernen und vertiefen möchte, ist herzlich zur Fortbildung „Tantra und Trauma“ in Berlin eingeladen, die ich gemeinsam mit meinem Partner Mari leite.

©Ilan Stephani
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