Tantramassage nach sexuellem Missbrauch? #1 – ein Vorspiel

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Wir Frauen kennen 101 Gründe für Sex. Ebenso können wir 101 Gründe haben, um eine Tantramassage zu bekommen… Vielleicht geht es uns dabei um Genuss, um sexuelles Neuland und um tolle Orgasmen, vielleicht um Selbstbestimmung, um „richtig viel Zeit für mich“, Spiritualität… oder – ja: um Heilung. Um sexuelle Heilung.

In dieser Artikelserie möchte ich auf Frauen eingehen, die sich für tantrische Massagen interessieren, um sexuelle Wunden aus ihrer Kindheit zu heilen.

Diese tantrischen Settings und Yonimassagen können bezahlt oder in einem privaten Rahmen stattfinden, beispielsweise in einer Partnerschaft. Seitdem die Abläufe und Techniken einer Yonimassage in hervorragenden Büchern und Anleitungen offen zugänglich sind, wird auch „die private Tantramassage“ immer häufiger. Ungefähr die Hälfte der Berichte, die ich für die Artikel hier zusammenfasse, stammt von Frauen, die Yonimassagen in einer Partnerschaft ausprobiert haben, nicht in einem Tantramassage-Studio.

Natürlich haben beide Versionen – privat und bezahlt – ihre Vor- und Nachteile. Um die Auseinandersetzung der Methoden zu fördern, spreche ich im Folgenden von „Klientin“ und „Tantramasseurin“ und hoffe, dass sich in dieser Vereinfachung dennoch alle möglichen Konstellationen wiederfinden.

Yonimassage – was ist das überhaupt?

Das umfassendste deutschsprachige Portal zur Yonimassage definiert sein Thema so:

„Die Yoni-Massage ist eine konsequent ganzheitliche Massagemethode für Frauen, bei der nicht nur der ganze Körper, sondern auch der Intimbereich achtsam massiert wird. […] Yoni-Massage ist der intime Teil einer Tantramassage für die Frau. […] Eingebettet in eine achtsame Tantramassage von 2 bis 3 Stun­den ermöglicht die Genitalmassage  über einen Zeitraum von einer halben oder ganzen Stunde der Frau, ihren Intimbereich wahrzunehmen.“

Klingt traumhaft, nicht wahr? Tatsächlich bin ich persönlich ein großer Fan von Yonimassagen. Einige meiner heilsamsten und lustvollsten Erfahrungen verdanke ich ihnen.

Durch meine positiven Erlebnisse dachte ich dann aber lange Zeit: „Was mir gut tut, tut allen Frauen gut…“

Diese naive Annahme bröckelte erst, als mir einige Frauen, die sexuellen Missbrauch erlebt hatten, von Yonimassagen erzählten, in denen sie dissoziiert waren, sich unwohl und unsicher gefühlt hatten und ihnen nicht gelungen war, sich mit ihrem inneren Erleben verständlich zu machen. Statt in neuer tantrischer Intimität landeten manche Settings offenbar in einem alten Mix aus Verwirrung, Taubheit, Frustration und Sprachlosigkeit (wiederum ausdrücklich auch in langjährigen, vertrauten Beziehungen).

Neue Fragen über Tantra und Trauma

Irgendwann auf meinem eigenen Heilungsweg wollte ich es genau wissen und begann, mich mit den exakten Abläufen von Trauma und Traumaheilung zu befassen. Dadurch bekamen diese Schilderungen wieder meinen Fokus: Wie war es möglich, dass tantrische Settings bei einigen Frauen Abspaltung und Taubheit auslösten und bei anderen nicht?

Um es für all jene deutlich zu machen, die Tantramassagen nicht kennen: Wir sprechen hier von einem Raum, der als „Fest für die Sinne“ konzipiert ist – von einer Tempelstimmung, die unsere Körper und unsere Genitalien willkommen heißt, die Zeit und Einfühlung bereithalten möchte, Verehrung für die Sinne und die besten Absichten. (Alles Andere würde ich auch nicht als „tantrisch“ bezeichnen wollen.)

Wenn sexueller Missbrauch die eigene Sexualität zutiefst demütigen, verwunden und unterdrücken kann, dann sollte eine Yonimassage doch die perfekte Lösung sein, oder?

Ja.

Nein.

Vielleicht.

„Es kommt darauf an…“

Ja: Yonimassagen können heilsam wirken, sie können ideal dafür sein, dass eine Frau – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – genug Raum und Ruhe erlebt, um ihre Vagina, Sexualität und Erregung kennenzulernen.

Nein: Das kann niemand garantieren. Ebenso können Yonimassagen ein Setting sein, welches erst Recht Unsicherheit und Verwirrung auslöst, anstatt aus dem Chaos der widerstreitenden Empfindungen rauszuhelfen.

Hier spielt eine große Rolle, ob wir – aus Unwissen, Bequemlichkeit, Ungeduld, o.ä. – die Wucht des Traumas unterschätzen, die sexueller Missbrauch in einem Nervensystem hinterlässt. Dieser Aspekt ist so wichtig, dass ich ihn im weiteren Verlauf dieser Artikelserie noch „ausführlich ausführen“ werde.

Hier eine erste knappe Skizze: Berührung, zumal genitale Berührung, mag bei Überlebenden von sexuellem Missbrauch der Inbegriff von Verrat und Todesangst sein. Diese massiven Reaktionen unterliegen NICHT unserem rationalen Zugriff. (Der gepriesene „gesunde Menschenverstand“ ist, wo wir Trauma begegnen, nur ein Pausenclown, und im eigentlichen Spiel der Ur-Kräfte unserer Körper das Erste, was aus der Kurve fliegt…) Ungeduld und die Suche nach dem Trick, der uns von unserer Geschichte erlöst – all diese Dinge sind verständlich. Dennoch kommen wir so nicht mit dem Kopf durch die Wand. (Sehr wohl jedoch tiefer in sie hinein.) Heilungswege haben „ihren eigenen Willen“, und sofern wir Interesse an ihnen haben, müssen wir lernen, ihnen zu lauschen. Ihnen zu folgen, statt sie zwingen zu wollen.

Entwarnung für die Selbstvorwürfe!

Aus traumasensibler Sicht gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, weshalb Yonimassagen Überlebende von sexuellem Missbrauch eher verwirren als beruhigen. Über diese möglichen Gründe möchte ich schreiben, um den betroffenen Frauen ihre Selbstzweifel zu nehmen und um die aktuelle Forschung zwischen Therapie und Tantra weiter zu fördern.

Wie überall: Natürlich hören wir viel mehr von Frauen, die die Berührung ihrer Genitalien toll finden, als von solchen, die sich darin verloren oder unwohl fühlen. Gerade in unserer Kultur, die Selbstwert über Sex konstruiert, steht häufig die Scham im Weg und macht aus einem simplen „Versuch-und-Irrtum“ eine innere Verhandlung auf Leben und Tod.

Sollten Yonimassagen für dich „nicht funktionieren“ – sollten sie dich ratloser und einsamer zurücklassen, als du sie begonnen hast, liegt das gewiss nicht daran, dass du etwas falsch gemacht hättest oder ein hoffnungsloser Fall seist.

Vielleicht findest du in dieser Serie aus Texten Hinweise, wie du das Setting so aufstellen kannst, dass Yonimassagen eine Bereicherung in deinem Leben werden. Vielleicht merkst du durch diese Aspekte aber auch, dass Yonimassagen gerade einfach nicht das Richtige für dich sind. Jedenfalls brauchst du dich nicht zu ihnen (oder zu irgendetwas Anderem) überwinden, um zu heilen, und du verpasst nichts, wenn du deine Ressourcen, deine Hoffnung und Kraft stattdessen in Schritte investierst, bei denen du dich wohlfühlst.

Das heißt nicht, dass du deine Hoffnung auf eine glückliche und lustvolle Sexualität begraben solltest. Im Gegenteil: Diese Sehnsucht gibt dir die Kraft für deinen Weg! Sie sollte dich aber nicht verleiten, den 101.Schritt vor dem 7. zu tun…

Unterwegs, um das Rätsel zu lösen…

Nach den Berichten, denen ich in Gesprächen, Erzählungen und zahlreichen Frauengruppen lauschen durfte, liegt es meist an einer Kombination von hauptsächlich 5 Gründen, wenn Yonimassagen für einen bestimmten Abschnitt deines Heilungsweges nicht funktionieren (immer vorausgesetzt, dass an sich „die Chemie stimmt“).

Diese 5 Gründe möchte ich aufschlüsseln und so darstellen, dass jede Seite, die mit Tantramassagen in Berührung kommt, optimal profitieren kann. Denn Wissen schützt. Wissen um Trauma und Tantra schützt vor falschen Zuschreibungen und vor dem Reflex, sich selbst oder dem Gegenüber die Schuld an missglückten Erfahrungen zu geben.

Die 5 Haupt-Gründe sind:

I
Der sexuelle Fokus bei sexuellem Missbrauch

II
Sexueller Missbrauch als Trauma wird unterschätzt
*Teil 1
*Teil 2

III
Yonimassagen als ein Setting, welches „zuviel Geborgenheit“ bietet
*Teil 1
*Teil 2

IV
Yonimassagen als ein Setting, welches „zu wenig Geborgenheit“ bietet
*Teil 1
*Teil 2
*Teil 3

V
Unrealistische Erwartungen und die Hoffnung, erlöst zu werden

Last but not least: Im Anschluss an diese 5 Punkte veröffentliche ich noch zwei weitere Artikel: „Hinweise für Klientinnen“ und „Hinweise für Tantramasseurinnen“.

Im nächsten Post folgt die Ausführung zum Punkt I – „Der sexuelle Fokus bei sexuellem Missbrauch“.

In den weiteren Texten der Serie folgen dann die Themen der Punkte II bis V.

Es wäre wundervoll, wenn die Zusammenarbeit zwischen therapeutischen und tantrischen Ansätzen weiter wachsen darf. Ich hoffe, dass diese Artikelserie den zarten Dialog, der in den letzten Jahren entstanden ist, nähren und bereichern kann.

Auf eine Welt voller glücklicher Yonis!

 


Ich bin mir im Klaren darüber, dass Körperarbeit und tantrisches Hands-On schwer in Worten zu vermitteln ist. Wer die Variationen und Hinweise aus dieser Artikelserie praktisch lernen und vertiefen möchte, ist herzlich zur Fortbildung „Tantra und Trauma“ in Berlin eingeladen, die ich gemeinsam mit meinem Partner Mari leite.

Du kennst Menschen, die sich ebenfalls mit Tantra oder Trauma befassen? Ich freue mich, wenn du diese Artikelserie weiterleitest, damit wir über diese tiefen Themen noch mehr voneinander lernen können!

 

©Ilan Stephani