Das mit der Hingabe #1
Wie leicht das alles sein könnte.
Wir strampeln uns aus unserer Kleidung, aus dem Alltag und der Arbeit, werfen uns aufs Bett, küssen und spüren uns und… hören auf zu denken. Wir lassen die Kontrolle fallen und tauchen selig unter in einem Meer aus Verbindung und Vertrauen. Wir lösen unsere Grenzen und Schalen, unseren Schutz, wir machen uns körperlich weit auf und werden zu einer weichen Welle aus Atmen und Fühlen, aus Pulsen und Klängen und Körpern im Raum.
Wir lassen uns los, bis wir uns finden…
Wie leicht das alles sein könnte.
Warum ist es dann so schwer?
Warum halten wir fest, statt uns hinzugeben?
Wie konnte sich auch nur ein einziger nervöser Gedanke in unsere Betten schleichen – wie kann es sein, dass wir die größten Ekstasen unseres Lebens nicht bewahren konnten vor einem Berg aus To-Dos, Sorgen und Ablenkung?
Glücklicherweise ist das Thema offiziell bekannt. Festhalten statt Loslassen ist unsere moderne sexuelle Epidemie. „Atmen Sie tief – konzentrieren Sie sich ganz auf Ihr Erleben!“ schreiben die Zeitschriften. „Männer finden es supersexy, wenn eine Frau im Bett wirklich weiß, was sie will, und kein Problem damit hat, Lust zu empfangen. Also keine Angst – lassen Sie sich hemmungslos fallen!“ raten die Sex-Experten. „Kontrolle ist eine Illusion. Machen Sie sich klar, dass Sie sowieso nichts kontrollieren können.“ sagen die spirituellen Lehrer.
Ich finde nicht, dass diese Ratschläge die Tiefe und den Kern der Sache treffen. Ließe sich das mit der Hingabe so einfach lösen, wäre unser Problem wohl schon aus der Welt.
Ob es Kontrolle nun gibt oder nicht, ob wir nun wirklich kontrollieren oder chronisch versuchen, zu kontrollieren – Tatsache ist, dass wir uns in dem einfachsten Zustand der Welt – hingegebenem SEIN – verirrt haben wie in einem Labyrinth.
Und warum das?
Weil wir Angst haben.
Warum haben wir Angst?
Weil wir die Phasen VOR der Hingabe übersprungen haben.
Will sagen:
Hingabe ist keine isolierte Aktion, sondern eine organische Folge in unserem Nervensystem, wenn wir im Verlauf eines Kontaktes bestimmte Phasen durchlaufen haben.
Genau diese „bestimmten Phasen“ ignorieren, überspringen oder verpassen wir Menschen meistens. Und das kommt uns spätestens im Sex teuer zu stehen: Wir können nicht abschalten. Wir hängen in einem unglücklichen Dilemma zwischen Kopf und Körper und versuchen sogar noch an der Hingabe uns festzuklammern. Statt uns ihr hinzugeben.
Hingabe gehorcht nicht unserem Willen, nicht unserem Üben und keinen guten Vorsätzen. Sie taucht selbstständig auf. Wir müssen sie nicht rufen und wir können sie nicht rufen. Das Einzige, was wir für unsere Hingabe tun müssen, ist, ihr nicht im Weg zu stehen.
Wenn wir also im Sex mehr kontrollieren und mehr denken, als uns wirklich Spaß macht, dann stehen wir – unbewusst – unserer Hingabe im Weg. Wir haben sie an ihrem natürlichen Auftauchen gehindert und verpassen ihre Geschenke.
Wie können wir beiseitetreten, um der Hingabe den Raum zu öffnen?
Schauen wir dafür einen Moment lang auf das Leben von freien, gesunden Säugetieren und auf ihren Umgang miteinander. Es ist ja nicht so, dass wir Menschen den Sex erfunden hätten:-) Und Tiere immerhin stolpern nicht alle Momente lang über sich selbst, während sie Sex haben.
Was machen gesunde Säugetiere anders als wir?
Sie haben das klügere Vorspiel. Sie sind wachsam und bereit, ihr Revier zu verteidigen. Sie versichern sich ihrer Grenzen und sie sind sich dieser Grenzen auch sicher, bevor und während sie sie öffnen.
Fußnote: Ich weiß, dass der Sex von Tieren für Menschen oft anders aussieht. Das liegt aber an unserem Wahrnehmungsfilter und nicht am Tier. Im Tierreich gibt es beispielsweise keine Vergewaltigungen (wie Susan Brownmiller in ihrer Analyse „Gegen unseren Willen“ brillant herausgearbeitet hat). Würden wir tatsächlich nur noch „wie die Tiere“ miteinander Sex haben, wäre die Welt ein wirklich ekstatischer Ort. Ende der Fußnote.
Für Tiere ist nicht Hingabe das erste Bedürfnis, sondern Sicherheit in den eigenen Grenzen. Warum? Weil es für ihr Nervensystem das erste Bedürfnis ist.
Und dieses Erbe – diese Reihenfolge der Bedürfnisse lebt hellwach auch in uns.
Wenn wir also die Phasen vor der Hingabe ernstnehmen und erleben und füllen wollen – wenn wir uns ein Beispiel an jenen Säugetieren nehmen wollen, die sexuell zurechtkommen, dann üben wir NICHT, uns zu öffnen, zu entspannen und uns hinzugeben, sondern uns zu schützen.
Das Gefühl der Sicherheit, weil unsere Grenzen intakt sind und unser Revier nicht bedroht ist, ist für unser Nervensystem die unverzichtbare Basis von allem, was ruhig, genüsslich, entspannt und regenerativ ist. Die eigenen Grenzen kommen vor dem Fressen, vor dem Schlafen – und vor dem Sex.
Ohne gegenseitig respektierte Grenzen kein Sex. Die erste Frage, die sich zwei Tiere stellen, wenn sie sich kennenlernen, ist nicht: „Lust auf Sex?“, sondern: „Bin ich sicher mit dir? Wirst du mein Revier respektieren oder nicht?“
Diese Frage stellen Tiere und Menschentiere sich seit vielen Millionen Jahren und das tun sie auch heute noch und werden dabei bleiben. Diese erste Frage stellen wir einander in derselben Präzision, mit der wir uns die Antwort darauf aus dem Fell, den Augen und den Pfoten lesen.
Im ersten Schritt ist nicht interessant: „Ja, ich finde dich toll.“, sondern: „Ja, ich respektiere deine Grenzen, du bist sicher mit mir – und ich mit dir.“ Wortlos, schneller als ein Wimpernschlag, unsichtbar für unseren Verstand und dennoch: Das sind die erste Frage und die erste Antwort im Kontakt zweier Körper.
Die moderne Traumaforschung, in der bekanntlich Wildtiere die Superstars geworden sind, formuliert diese instinktive Formel im Nervensystem, diese eingeschriebene Reihenfolge folgendermaßen
1.Schritt: Sicherheit (Schutz meiner Grenzen)
2.Schritt: Annäherung (Knistern… Kontakt…)
3.Schritt: Berührung (inkl. HINGABEvoller Sex)
4.Schritt: Bindung (ein gemeinsames Revier – und vielleicht Nestbau und kleine Babys:-))
Eine schlichte, logische Kette. Jede erfüllte Phase („Ja, du bist mit mir sicher – und ich mit dir.“, usw.) öffnet in unserem Nervensystem die Möglichkeit, in die nächste Phase zu gehen.
Das meine ich mit den Phasen VOR der Hingabe.
Und was machen wir Menschen?
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Bildnachweis: mit herzlichem Dank an Pixabay.com
©Ilan Stephani
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