In CHAOS-Phasen kommen wir unserem wohldurchdachten Leben nicht mehr hinterher.
Du gehst aus der Tür, um zur Arbeit zu gehen, und du fällst die Treppe hinunter und brichst dir ein Bein. Dein Mann will dich ins Krankenhaus fahren, aber das Auto springt nicht an. Ihr geht zurück zum Haus, um einen Krankenwagen zu rufen und stellt fest, ihr habt euch ausgesperrt. Gerade als ein Polizeiwagen vorfährt, um euch zu helfen, kommt das große Erdbeben, und dein Zuhause, dein Mann, dein gebrochenes Bein und das Polizeiauto verschwinden in einem gähnenden Abgrund. (Ellen Bass/Laura Davis: TROTZ ALLEM)
In CHAOS-Phasen kommen wir unserem wohldurchdachten Leben nicht mehr hinterher. Ohne damit gerechnet oder darum gebeten zu haben, ist es eines Tages soweit und wir verlieren die Orientierung. Wahrscheinlich haben wir eine vage Vorstellung davon, wie es dazu kommen konnte, aber vor allem wissen wir gar nichts mehr.
Ja, wir haben uns in den offenbar Falschen verliebt, und wenn wir uns nicht in den offenbar Falschen verliebt hätten, ginge es uns jetzt gewiss anders. Ja, wir haben diesen stressigen Job, dieses oder jenes Trauma in der Kindheit, ja, wir wurden geschlagen oder hatten einen neurotischen Vater, aber irgendwie ist in all diesen Erklärungen eines doch nicht klar: wie konnte es die Falltür in unsere Unterwelt öffnen und warum kommen wir da nicht mehr raus?
Und was ist eigentlich los?
CHAOS bricht mit den großen, großen Tabus unserer Kultur: nicht zurechtzukommen und nicht wissen, nicht erklären, nicht in Worte fassen zu können (und allein das macht alle Menschen im CHAOS zu Heldinnen.)
Wir haben kein Werkzeug, um mit CHAOS umzugehen. Diese Sache sprengt uns den Horizont weg, und auch noch einiges mehr. Wir kommen nicht klar. Wir wissen nicht, welchen Brand wir zuerst löschen sollen, und weil wir uns mittlerweile so sehr erschöpft haben, werfen sich die Hyänen aus unseren Untiefen mit lautem Geheul auf den Fang… wir versinken in Scham.
Nachts sitzen die Teufel an deinem Bett und lachen über die Pläne, die du für dein Leben gehabt hattest.
Eigentlich scheitern wir im CHAOS gar nicht am CHAOS selbst, sondern an unserer kollektiven, antrainierten Trance: dass man zurechtkommen sollte.
Zurechtkommen ist Bullshit. Zurechtkommen ist ein unkörperliches, lebensfeindliches, erlogenes Konzept, um aus Menschen moderne Sklaven zu machen. Aber gewiss: Sobald du erstmal glaubst, du müsstest zurechtkommen (und dass ja alle zurechtkommen), bezahlst du alles, was verspricht, für das Zurechtkommen verantwortlich zu sein.
Um dem gähnenden CHAOS zu entrinnen, bezahlst du das Parfum und die Party, die richtigen Hosen und die falschen Therapeuten, du bezahlst die nächste Ausbildung und den allerletzten Scheiß. Du würdest es dir nun mal nicht verzeihen, wenn dein Leben zusammenbricht. Und warum würdest du dir das nicht verzeihen? Weil es nicht den Konzepten von Leben entspricht, die du von klein auf gelernt hast.
Selbst wenn du weißt, dass man dir Sachen beigebracht hat, die wenig taugen, und aus Gründen heraus, die noch weniger taugen, selbst dann wärst du jetzt, im blühenden CHAOS, am liebsten tot, weil du diesen Konzepten nicht genügst. (Ich sage nicht, das CHAOS an sich mache keine Angst. Ich sage nur, dass es mit unserem grandiosen Motiv, das CHAOS abzuwenden, häufig gar nicht so weit her ist. Das reicht im ersten Schritt nur bis zu unserer enttäuschten kleinen Kinderliebe zu der „großen Welt da draußen“. Und das bedeutet: Es reicht nicht weit.)
Demgegenüber: CHAOS-Phasen sind die ehrlichsten und lebendigsten Phasen, die wir erwischen können. (Ehrlich gesagt sind sie noch ehrlicher und lebendiger als Verliebtheit. Bloß gestehen wir uns unsere persönliche Betroffenheit lieber ein, wenn wir verliebt sind, als wenn wir gerade im Feuer des CHAOS getauft werden.) Alles, alles, was ich wirklich gelernt habe, habe ich im CHAOS gelernt.
Demut war nur Gerede, bis mich mein CHAOS eingeholt hat. Mut war nur ein Wort und Heilung nur ein Hobby… bis ich lernen musste, wie verdammt zäh und wie besinnungslos lebendig das Leben ist. Humor ist nur ein Pausenclown, bis ich ihn in meiner Hölle entdecke. Spiritualität ist nur Vermeidung, bis ich sie in meinem Tod erfahre. Ich glaube nicht, dass es eine größere Chance gibt auf Transformation als CHAOS.
Nicht das CHAOS, nur die Ordnung kann der Mensch verschulden. Wenn jemand immer zurechtkommt, liegt das nur an einem einzigen Grund: Sie wurde vom Leben bereits aufgegeben. Denn CHAOS fließt hinein in jeden Winkel meines Lebens, den ich der Sehnsucht übergebe, CHAOS zeigt sich, wo ich auf Klugheit verzichte, CHAOS antwortet, sobald ich mir Trauma, Verzweiflung und Heilung eingestehe.
Eine Verwandlung strömt unter unsere Füße… und wir Menschen flippen aus. Unsere Körper hingegen kennen genau das besser als alles Andere. Verwandlungen sind das Gebet unserer Körper, nachdem sie es Millionen von Jahren erfahren haben und daraus selbst geboren wurden. CHAOS, Wellen, Tode, Brände, Zerstörungen nehmen den alten Lebensraum weg, Kontinente trennen sich, versinken im Ozean und tauchen aus ihm auf.
Ihr ahnt es schon: Ich möchte uns einberufen für entschieden mehr Stolz im CHAOS. Für mehr Weiteratmen, Körperarbeit, Tanzen und lautes Gelächter im CHAOS. Lasst uns gemeinsam die Kunst im CHAOS üben: Schwimmen und Ausruhen. Lasst uns das Loslassen lernen und das Loslassen loslassen dürfen. CHAOS ist unsere Feuertaufe, und Beistand darin ist unser Geburtsrecht.